(13.3.2020) Replik an die geschätzten Kollegen von der Pro-Fraktion zum Thema Mobilitätsleitbild:
Ich hatte mich schon gefragt, wie wohl die Reaktion auf meinen Vortrag beim letzten MLB-Symposium am 29.1.20 aussehen würde. Hat ein bißchen gedauert, bis die Pro-Citybahn-Aktivisten ihre Sprache gefunden haben. Das Ergebnis ist allerdings gewohnt enttäuschend-vorhersagbar. Ich würde sagen, eine Mischung aus nicht verstanden und nicht verstehen wollen.
Interessant ist auch, daß die Kollegen von der Pro-Fraktion zwar – wie alle Teilnehmer dieser Veranstaltungsserie – eine enorme Leidensfähigkeit zeigen, wenn sie sich stundenlang mit teilweise durchaus dünnen Inhalten frontal beschallen lassen. Kaum hören sie für gerade mal 6 Minuten 40 Sekunden- da war der Moderator wirklich sehr streng, komisch – Positionen, die nicht in ihre schöne kleine Welt passen, bekommen sie Schnappatmung. Zumal einige Pro-Aktivisten eine solche Zeit locker mit einer einzigen Diskussions-Wortmeldung schaffen.
Wobei ich denke, daß viele Teilnehmer sich diese stundenlange Frontalberieselung eben nicht mehr antun. Ein kleiner Hinweis darauf war, daß zirka die Hälfte der Stühle im Raum gar nicht besetzt war.
Zunächst mal, ich verdiene mein Geld durchaus nicht mit dem Autonomen Fahren. Selbst wenn – ich denke gerade an die deutlich längere Präsentation von Frau Weiser unter der Überschrift „Best Practice“, in der sie ausführlich ihr Startup-Geschäftsmodell vorstellen durfte (etwas boshaft ausgedrückt würde ich die Idee „wir simulieren nachbarschaftliches Dorfleben mit einer App“ nennen).
Auch den Vortrag von Herrn Prof. Kampker zum Thema Elektromobilität würde ich durchaus zumindest teilweise in die Kategorie Eigen-PR einsortieren.
Um nur zwei Beispiele zu nennen; es ist mir nicht wirklich ein Anliegen, hier irgendwelches Fingerpointing zu betreiben.
Die Pro-CB-Kollegen behaupten, der Vortrag hätte keine positiven Beiträge geliefert. Es mag sein, daß sie in ihrer Filterblase wirklich nicht dazu fähig sind, diese zu erkennen. Oder sie wollen nicht. Auch das ist mir letztendlich egal.
A propos: ich hätte ja gerne hier einen Link auf meine Präsentation eingefügt. Die Downloads der Präsentationen sind ja ein wenig versteckt (liebe RCC, wenigstens eine Webseite mit halbwegs guter Usability hätte ich euch ja zugetraut, mehr als eine Vier minus bekommt ihr von mir nicht), meine ist leider nicht dabei, sicher nur ein dummes Versehen.
Dennoch, für diejenigen, die ideologisch noch nicht ganz so fixiert sind: derzeit halte ich zwei Dinge für wichtig.
Erstens: solange man nicht erkennt, was die wahren Gründe sind, warum heute viele Menschen den MIV vorziehen, wird man es nicht schaffen, den ÖPNV wirklich spielentscheidend zu verbessern. Das Publikum zu beschimpfen („zu doof die vielen Vorteile zu erkennen“) ist da kein Ersatz.
Bei „Spiel“ möge man wirklich an ein Mannschaftsspiel denken. Es gibt nun mal ein paar Dinge, die der MIV einfach besser kann. Eine Ballabgabe im richtigen Moment, das heißt, Teamdenken beim Zusammenspiel von ÖPNV und MIV, ist da sinnvoller als das sture Festhalten an „ich kanns alleine“ – so schießt man keine Tore.
Und auch der Versuch, die Schwächen des ÖPNV zu kaschieren, indem man dem MIV künstliche Steine in den Weg legt, wird dauerhaft nicht funktionieren, weil es letztendlich auf aggressives Handeln gegenüber einer Mehrheit der Bevölkerung hinauslaufen würde.
Womit wir zum zweiten Punkt kommen. Ich würde gerne mal wissen, woher das Bild kommt, daß autonomes Fahren „MIV“ ist. Ich sehe das gerade andersherum – autonomes Fahren hat das Potential, einen besseren ÖPNV zu schaffen.
Schon interessant, daß Herr Kraft gerade eine Fahrt zum Flughafen als Beispiel wählt. Ich biete Ihnen ein in jeder Hinsicht besseres Beispiel an. Nehmen wir an, es gäbe den Robotaxi-Service, der mich und mein Gepäck von meiner Wohnung in einem Vorort oder im Ländlichen, umsteigefrei zum nächsten ICE-Bahnhof bringt.
Warum sollte dieses Robotaxi dann wieder zum Ausgangspunkt zurückfahren? Vielleicht fährt es nochmal zur Tankstelle (vielleicht Elektro, vielleicht Wasserstoff oder E-Fuels, ist letztendlich nicht so wichtig). Und dann fährt es für jemanden, der an diesem ICE-Bahnhof angekommen ist.
Übrigens, für Leute mit genug Geld gibt es diese Möglichkeit natürlich heute schon. Wer weniger Geld hat, muß heute selbst fahren (was ich persönlich für eine Verschwendung kostbarer Lebenszeit halte), sein ganzes Leben nach Fahrplänen richten (auch nicht besser) oder in ein Ballungsgebiet ziehen (und dort viel Geld für Miete oder Kauf ausgeben, erst recht nicht sinnvoll).
Niemand weiß im Moment, wann diese Vision eines ÖPNV 2.0 Realität wird. Es kann locker noch 10, 15 Jahre dauern. Begonnen hat die Zukunft allerdings schon. Nur leider anderswo. Ein Beispiel: Singapur – 5,7 Millionen Einwohner, so viel wie die Metropolregion Rhein-Main – hat beispielsweise eine Strategie (im Gegensatz zum Rhein-Main-Gebiet, wo nur ein paar Mini-Testfelder existieren). Die Fahrzeuge müssen sich dafür qualifizieren. Das beginnt in einem Testareal mit typischen Verkehrssituationen, dann geht es mit Realsituationen mit steigendem Schwierigkeitsgrad weiter; die höchste Stufe, die bisher noch von keinem Fahrzeug erreicht wurde, ist ganz Westsingapur, die Hälfte des Stadtgebiets.
Das heißt nicht, daß es nicht auch in Deutschland Städte gibt, die zumindest ein klein wenig fortschrittlicher sind als, sagen wir, Wiesbaden oder das Rhein-Main-Gebiet.
Ich schreibe diesen Text während einer ICE-Fahrt von Hamburg nach Frankfurt. Dort gibt es in einigen Stadtteilen schon seit einiger Zeit einen von der DB betriebenen Shuttle-Service (Ioki) mit Zubringerfunktion zur lokalen S-Bahn. Und im Sommer 2019 hat ein Oberverwaltungsgericht ein Limit gekippt, das den von VW betriebenen Dienst Moia (On-Demand-Fahrten mit Elektro-Kleinbussen) auf 200 Fahrzeuge – anstelle der beantragten 1000, für die es auch Unterstützung des Hamburger Senats gab – limitiert hätte. Der Ausbau auf 500 Fahrzeuge und eine Erweiterung der versorgten Fläche von 200 auf 300 km² ist schon geplant. Der limitierende Faktor sei nicht die Nachfrage – die laut Betreiber teils deutlich über dem Angebot liegt – sondern die Schwierigkeit, genügend Fahrer zu finden.
Ob die DB oder VW damit Geld verdienen, ist nicht der entscheidende Punkt – vermutlich lassen es die derzeitigen Personalkosten nicht zu. Natürlich ließe sich genug Personal finden, wenn man höhere Gehälter zahlt. Die Personalkosten sind aber jetzt schon die Kostentreiber für den ÖPNV außerhalb der Ballungsgebiete. Und sicherlich einer der wesentlichen Gründe für das schlechte ÖPNV-Angebot in Vororten und erst recht auf dem Land.
Entscheidend ist: Die Betreiber können jetzt schon für das autonome Fahren üben, also die Leistung und vor allem die „Usability“, die Nutzungsqualität, ihrer Systeme optimieren.
Bei einer solchen Entwicklung wird es auch Verlierer geben, etwa kommunale oder regionale Verkehrsmonopolisten. Ob dies das Motiv von ESWE ist, sich so stark bei der Citybahn zu engagieren, weiß ich nicht; vielleicht sind es auch nur einige Akteure, die dort noch in den Konzepten von gestern denken. Bei der letzten MLB-Veranstaltung habe ich, beim Vortrag von Herrn Gerhardt eine Menge guter, zukunftsweisender Punkte gehört (auch wenn einige dieser Konzepte anderswo schon länger Realität sind; besser spät als nie).
Mit den kalten Augen wirtschaftlicher Logik wäre es nachvollziehbar, wenn Noch-Monopolisten noch schnell versuchen würden, Fakten zu schaffen, die ihre Monopole noch eine Weile sichern. Nur ist so etwas nicht im Interesse der Bürger.
Als damals das iPhone die Smartphone-Ära eingeläutet hat, hätte Nokia, kalt erwischt, blind und selbstzufrieden durch den eigenen Erfolg, das sicher auch gern verhindert. Wie das ausgegangen ist, wissen wir. Übrigens ganz ohne „Featurephone-Verbot“ oder Kaufprämien für Smartphones.
Und wir wissen auch, daß Smartphones eine ganze Menge anderer nützlicher Entwicklungen erst möglich gemacht haben. Zum Beispiel auch „connected mobility“, also die nahtlose Vernetzung von Verkehrssystemen, bei der Reisende im Idealfall von Haustür zu Haustür geleitet werden.
ÖPNV 2.0 mit autonomen Fahrzeugen verhält sich zum heutigen ÖPNV – wohlgemerkt, das ist nicht die Schuld der Betreiber, sondern liegt einfach an den Grenzen ihrer heutigen Mittel – wie ein aktuelles Smartphone zu einem Billig-Einfachhandy. Die Möglichkeit zum Reisen von Haustür zu Haustür zu bezahlbaren Kosten und mit mehr Reisekomfort als in heutigen Nahverkehrs-Massentransportmitteln ist da nur die Basis.
Es kann viel mehr daraus entstehen – etwa eine Lösung des heutigen Problems explodierender Mieten und Platzknappheit in Ballungsräumen. Das ist bekanntlich nicht die Folge hoher Geburtenraten, sondern liegt einfach daran, daß in den Vororten und erst recht im Ländlichen guter ÖPNV kaum bezahlbar ist.
Genau das wird sich mit ÖPNV 2.0 ändern. Warum dann noch in eine enge Stadt ziehen? Ein verbleibender Grund wäre: weil dort die Jobs sind. Aber auch das wird sich ändern. Mehr Wohnbevölkerung in ländlichen Räumen bedeutet: mehr Nachfrage nach Handel, Handwerk, Dienstleistungen und so weiter. Bessere Mobilität im Ländlichen bedeutet auch: Arbeitgeber müssen nicht mehr unbedingt in die Zentren; heute tun sie das, weil sie dort für viele potentielle Mitarbeiter gut erreichbar sind. In dem Moment, wo dies auch an anderen Standorten geht, gibt es keinen Grund mehr, hohe Grundstückspreise und andere Kosten in Kauf zu nehmen.
Was mich, abschließend, wieder zum Wiesbadener Mobilitätsleitbild bringt. Wie anfangs gesagt – letztlich ist es egal, ob die Pro-CB-Aktivisten die Potentiale nicht sehen können oder nicht sehen wollen: In einer Umbruch- und Chancensituation auf große, unflexible Systeme zu setzen, deren Zeit schon bald abgelaufen ist, wäre mehr als töricht.
Was wir heute brauchen, sind agile, flexible Lösungen. Das Wiesbadener Bussystem ist noch lange nicht am Limit, es hat dort, wo es darauf ankommt, noch ausreichend Ausbaupotential – durch gezielte Optimierung, Tangential- und Umgehungslösungen. Die Ressourcen, dies umzusetzen, sind vorhanden – es gibt keinen Grund, weshalb Wiesbadener Bürger in ihrer Freizeit die Arbeit erledigen müßten.
Aber die Citybahn-Akteure stecken lieber Millionen von Euro in Propaganda. Wenn das Produkt, das sie uns verkaufen wollen, wirklich so gut wäre wie sie uns glauben machen wollen, bräuchte es nicht solche verzweifelten Werbeanstrengungen.
Und erst recht gibt es keinen Grund, die Stadt durch jahrelanges Bauen ins Chaos zu stürzen, unkalkulierbare Kostenrisiken einzugehen – niemand weiß genau, welche „Überraschungen“ entlang der Strecke noch im Boden warten, wo bestehende Versorgungsleitungen und andere Infrastruktur verlegt werden müßten.
Um dann, wenn es quasi kein Zurück mehr gibt, festzustellen, daß die Citybahn, indem sie den sowieso schon knappen Verkehrsraum noch weiter reduziert, genau den Verkehrskollaps erzeugt hat, den sie angeblich verhindern soll.
Sobald die Verantwortlichen damit beginnen, ihre Energie und ihre Budgets wirklich zukunftsorientiert einzusetzen, statt weiter dem Traum von einem unflexiblen System von gestern nachzuhängen, kann Wiesbadens Reise in die Zukunft beginnen.