(24.8.20) Corona, Home Office und die Citybahn:
In den Medien liest man schon seit längerem davon, daß „Homeoffice“, im Zuge der Corona-Pandemie eingeführt, sowohl von Firmen als auch von Mitarbeitern überwiegend positiv bewertet wird. Eine ganze Reihe von Studien gehen in die gleiche Richtung – der Anteil von Firmen, die Homeoffice regelmäßig nutzen, hat „vor Corona“ bei etwa 25% gelegen. Beim aktuellen Anteil von fast 50% wird es zwar wohl nicht bleiben, die Auswertung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) besagt aber, daß ca. 37% der 1765 befragten Unternehmen Homeoffice dauerhaft nutzen wollen (https://www.zew.de/presse/pressearchiv/unternehmen-wollen-auch-nach-der-krise-an-homeoffice-festhalten).
Siehe dazu auch: https://www.iwd.de/artikel/der-bueroturm-hat-womoeglich-ausgedient-478065/
Zum einen dürfte es wegen des zu erwartenden Rückgangs beim Pendlerverkehr notwendig sein, Verkehrsprognosen entsprechend nach unten zu korrigieren.
Sekundäreffekte entstehen aus der geringeren Nachfrage nach Büroflächen. Bei bereits ansässigen Firmen wahrscheinlich mit weiteren Folgeeffekten aus Rückgang bei der Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen in diesem Bereich. Bei Neuansiedlungen werden Firmen nicht nur mit geringerem Flächenbedarf planen, sondern verstärkt darüber nachdenken, ob sie die teure zentrale Lage überhaupt brauchen oder ob es nicht auch ein weniger zentraler Standort tut. Beides wird Auswirkungen auf die Einnahmesituation der Städte haben.
Zum anderen – hierzu wurde gerade eine Studie des Immobilienspezialisten JLL veröffentlicht – wird sich die Nachfrage nach Immobilien verändern, hin zu mehr Wohnen im Ländlichen oder der Peripherie (https://www.jll.de/de/presse/veraenderte-arbeitswelten-zunahme-von-home-office-veraendert-nachfrage-nach-buero-und-wohnen).
Das ist eine gute Nachricht, weil es den unseligen Trend zu überfüllten Ballungsräumen und zu immer höheren Mieten beenden kann.
Es bedeutet aber auch, daß die bisherigen städtischen Bevölkerungsprognosen ebenfalls revidiert werden müssen.
Was hat all dies mit der Citybahn zu tun? Sehr viel.
Eines der zentralen Argumente pro Citybahn ist der behauptete Anstieg des Verkehrs und das Wachstum der Stadtbevölkerung. Diese Basis – die behaupteten Zahlen waren auch davor schon zweifelhaft – dürfte nun nicht mehr haltbar sein; eine seriöse Neubewertung ist erforderlich.
Gleichzeitig droht ein systematischer Rückgang der Einnahmen der Stadt aus Gewerbesteuer. Auch hier müssen die bisherigen Annahmen auf den Prüfstand.
„Corona“ wird also nicht „nur“ eine möglicherweise schwere Wirtschaftskrise auslösen. Die gesamte Entwicklung im Bereich Mobilität wird wohl auf einen neuen Pfad gelenkt.
Hier wäre übrigens zu bemerken, daß sogar unser Mobilitätsleitbild-„Experte“ Prof. Knie vor kurzem auf den Trichter gekommen ist, daß vielleicht doch die „Quality of Experience“ beim der ÖPNV-Nutzung eine Rolle spielen könnte (https://www.spiegel.de/auto/nahverkehr-in-der-corona-krise-so-haben-busse-und-bahnen-gegen-das-auto-keine-chance-a-ff5d96f0-b007-4443-8bc3-10743d61d9ec). Allerdings glaubt er immer noch an die „großen Gefäße“ als „Rückgrat“. Die notwendigen Umstiege will er mit „connected mobility“ benutzerfreundlicher machen (ein alter Hut, übrigens. Aber das ist eine andere Geschichte).
- Wußten Sie übrigens, daß der gute Professor (Soziologie) und „führende Mobilitätsexperte“, der als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats den „ergebnisoffenen“ Mobilitätsleitbild-Prozeß begleitet hat, den Privatbesitz von PKW am liebsten verbieten würde (https://www.heise.de/newsticker/meldung/Netzregeln-Soziologe-fordert-Verbot-eigener-Autos-3455829.html)? Na ja, unwichtiges Detail.
In seinem Berlin mag der Business Case für extragroße innerstädtische Massentransportmittel auch mit einem Nachfragerückgang von 20% oder mehr noch funktionieren. Die beste QoE erreicht man aber immer noch mit möglichst wenig Umstiegen, sprich: wenn es weniger Massen zu transportieren gibt, eben mit kleineren, dafür mehr und zielgenauer fahrenden Gefäßen (kleiner Tip: es gibt heute schon Fahrzeuge, mit denen das funktioniert, ohne daß man dafür erst alles mit Schienen zupflastern muß).
- Übrigens, haben Sie sich auch schon einmal gefragt, woher dieser seltsame Begriff „Gefäß“ für Massentransportmittel kommt? Das englische Wort „Vessel“ kann je nach Kontext Schiff, Gefäß oder einfach Fahrzeug bedeuten.
Ich schweife schon wieder ab. Was ich sagen will: Das Massentransportmittel Citybahn war vor Corona schon für Wiesbaden grotesk unpassend. Jetzt ist es noch ein Stück unpassender geworden.
Eigentlich sollten die Citybahn-Befürworter von sich aus erklären, das ganze Projekt auf Eis zu legen und erstmal zu sehen, wie die Nach-Corona-Welt sich entwickelt. Um dann, vielleicht, in ein paar Jahren zu entscheiden, ob das Ganze wieder aufgenommen werden soll. Immerhin sprechen wir von Leuten, die vor gar nicht so langer Zeit noch behauptet haben, die Wiesbadener Bürger könnten erst dann eine qualifizierte Entscheidung über die Citybahn treffen, wenn der letzte Meter Schiene durchgeplant ist (was sie allerdings nicht daran gehindert hat, schon vor Jahren ihre eigene „Pro“-Entscheidung zu treffen).
Von daher – die einzig richtige Antwort beim Bürgerentscheid am 1.11.2020 ist „Nein“.